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Kann man Russlands Krieg gegen die Ukraine verstehen?

Marco Herack
Marco Herack
8 minuten gelesen
Kann man Russlands Krieg gegen die Ukraine verstehen?

Inhaltsverzeichnis

Am 24. Februar 2022 war es so weit. Russland marschierte in die Ukraine ein. Eine Invasion, die viele überraschte und fassungslos machte. Bis heute. Es herrscht Krieg. Ein Krieg, der nun erstmal allgegenwärtig ist.

Wenn man in Cairo an der indischen Botschaft vorbeiläuft, kommen gleich danach die Räumlichkeiten des zur RT-Gruppe gehörenden Senders 'Sputnik'. RT ist der staatliche russische Auslandsfernsehsender, der sich früher offensiver ‚Russia Today‘ nannte. Ein hierzulande immer erfolgreicheres Fernsehprogramm und, im Gegensatz zu Al Jazeera, auch ‚willkommen‘.

Läuft man dann weiter, folgt in einer Putin-Tischlänge, also rund 15 Minuten Fußweg, die Botschaft der Europäischen Union. Dort hängen die europäische und die ukrainische Fahne. Es gibt eine Absprache zwischen den Botschaften Europas, diese Fahnenkonstellation (eigene + Ukraine) zu präsentieren. Fotografieren verboten, wie mir ein Mann mit AK-47 erläuterte.

Die Informationsflut seit Ausbruch des Krieges ist gigantisch. Das liegt auch daran, dass man in Deutschland so wenig über die dunkle Seite Russland weiß, dass man nun den Stoff von 20 Jahren Putin nachholen muss. Über die historische Konstante reden wir da noch nicht. Daher habe ich in Craft eine Seite angelegt, auf der ich ein paar wesentliche Informationen sammle ohne alle Informationen zu sammeln. Die Idee ist, euch ein paar Ressourcen an die Hand zu geben, mit der ihr euch dem Russland nähern könnt, das diesen Krieg angefangen hat. Seht es mir nach, wenn ich dabei nicht der Schnellste bin.

Denn bei allem Schock über die aktuelle Situation: Innerlich überrascht sein kann ich nicht. Zu sehr war das kriegerische Element in der russischen Gesellschaft verankert. Zu stark der Hass auf den Westen und die Freude über die Annexion der Krim. Putin war und ist in vielerlei Hinsicht der Ausdruck der russischen Gesellschaft, er operierte nie im luftleeren Raum. Und auch wenn es immer Widerstände gegenüber seinem Regime gab und die Gesellschaft somit im Kleinen verhandelt wurde, war die Entwicklung klar gezeichnet. Die Räume der Zivilgesellschaft wurden mit jedem Jahr seiner Regentschaft enger. Es gab nie einen Moment der Öffnung. Nie wurde etwas ‚besser‘.

Gleiches galt auch für die russische Wirtschaft, die sich nie entwickelte. Seit 2013 waren die Reallöhne rückläufig. Jetzt kommen die Sanktionen obendrauf. Eine erste Einschätzung zu den Sanktionen haben wir euch im Mikroökonomen-Podcast aufgenommen. An den Sanktionen selbst wird weiter gearbeitet. Zum Beispiel möchten die USA nun erstmal im Alleingang keine Öl-Produkte mehr von Russland abnehmen. Aber eine wirklich große Veränderung ergibt sich aus den Kleinigkeiten nicht. Wer meine Arbeit etwas verfolgt hat, weiß, dass ich mich nun anderen Aspekten des Themas zuwende. Darum soll es in diesem Newsletter auch gehen.

Putins Echokammer

Über Putins Motivation ist viel geschrieben worden. Das meiste fand ich befremdlich. Aktuell sind wir in einer Phase des Diskurses, der versucht im Nachgang eine Art Rationalisierung Putins vorzunehmen. Dazu werden vor allem Fehlannahmen bemüht. Also das Prinzip ‚Echokammer’, das autoritären Regimen zu Eigen ist. Demnach ist Putin zwar total rational, aber er hat halt die falschen Informationen.

Ich stimme dem insofern zu, als dass Putin definitiv über die wirkliche Stärke seiner Armee falsch informiert war. Jeder wusste, dass die Gelder der Rüstungsobjekte durch Korruption niemals im genehmigten Umfang als Investition in der Armee ankamen. Das Prinzip ist an der Stelle eher, dass man Leuchtturmprojekte finanziert und in denen glänzt, aber abseits dessen alles mitnimmt, was geht. Man sieht das dann daran, dass russische Soldaten in ihren Verpflegungspaketen seit 2015 abgelaufenes Essen mit sich rumschleppten.

Putin selbst wird seinen ‚fair share‘ von diesem Raub erhalten haben. Das ist das Prinzip im von ihm geführten Russland. Es gibt da nur keine doppelte Buchhaltung, der nach man offiziell ‚dies‘ hat und in Wirklichkeit ‚das‘. Es gibt Lieblingsprojekte des Präsidenten, die müssen funktionieren, und es gibt den Rest.

Nach allem, was wir mittlerweile wissen, wurde der Krieg in einem kleinen Zirkel ausbaldowert, wenn überhaupt. Es war daher nicht möglich, ‚das System‘ Russland oder das russische Militär auf diesen Krieg vorzubereiten.

Das allgegenwärtige Militär

Und dennoch war Russland seit 2014 kriegsbereit, wie ich im letzten Newsletter bereits beschrieben habe. Die Eliten haben nie aufgehört, von diesem Krieg zu sprechen. Sie warfen Verachtung gen Ukraine und dem Westen. Die Ausspeiungen von Margarita Simonyan der letzten Jahre weisen hier den Weg. Nach der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk als unabhängige Staaten, fragte sie, wo der Champagner sei. Wohl wissend, dass dieser Schritt Putins Krieg bedeutet.

Man kann an dieser Stelle sehr viele Anekdoten erzählen. Sei es die militärische Früherziehung russischer Kinder, die internationalen Militärspiele, das Zelebrieren des ‚Vaterländischen Krieges‘ oder Park Patriot. Seit 2014 gab es einen Schub an militärischer Präsenz und Verankerung innerhalb der Gesellschaft. Der Krieg war allgegenwärtig und Teil der russischen Kultur.

Das Fazit aus all dem ist klar: Vergangene Kriege waren ein Erlebnis der Gegenwart. Die Annexion der Krim war Teil eines neuen Krieges. Dessen Ziel war nie das Eindämmen der Nato, sondern immer das Erobern der Ukraine. Im Westen dachte man nur zu gerne, dass das alles nicht so ernst zu nehmen sei. Auch weil die Rufe nach ‚Nowarossija‘ schnell wieder abnahmen, um das Abkommen von Minsk zu ermöglichen. In Russland selbst, wurden die Stimmen nur leiser, sie verstummten aber niemals.

Was ist passiert?

Russlands Krieg gegen die Ukraine stand immer fest. In der Ukraine gab es dahingehend nie Illusionen. Über die politischen Lager hinweg war man sich darin einig. Von der Prämisse ausgehend, war die Frage also eher: Wann greift Russland an?

Es gab im Vorfeld zu 2022 viele Ereignisse, die die Schlinge um die Ukraine immer enger zogen. Sei es die Vorkommnisse im Asowschen Meer, die Brücke zur Krim oder der Dauerkrieg in der Ostukraine. Aus dem, was ich sehe, fiel die Entscheidung zu diesem Krieg mit der Abwahl Donald Trumps als Präsendent der USA. Das war im November 2020.

Im Frühjahr 2021 hatte Russland zwischen 80-110.000 Soldaten vor der ukrainischen Grenze zusammengezogen. Schon damals fanden zumindest die USA das ungewöhnlich, Merkel wollte wie immer deeskalieren und der ukrainische Botschafter in Deutschland warnte vor sehr realen Kriegsvorbereitungen. Im April 2021 wurden die Truppen dann angeblich abgezogen. Es sind aber ausreichend viele verblieben, um beunruhigt zu bleiben.

Um den Jahreswechsel 2021 haben sich zwei weitere Ereignisse ergeben, die wahrscheinlich das zeitliche Kalkül von Putin verändert haben. Zum einen konnte Russland durch die Schwäche Lukashenkos seinen Durchgriff auf Belarus sichern. Das Land hat eine direkte Grenze zur Ukraine. Diese Position wird nun zum Angriff auf die Ukraine genutzt. Sprich es wurden Truppen dorthin verlegt, dafür hat man aber etwas Zeit gebraucht, auch um den eigenen Stand in Belarus auszubauen.

Im Januar 2021 wurde zudem Joe Biden inauguriert. Er hat zuvor in der US-Präsidentschaftswahl im November 2020 gegen Donald Trump gewonnen. Und Donald Trump kommunizierte mehrfach, dass er mit der USA die Nato verlassen wolle. In seiner Amtszeit gab es dazu mehrere Szenen, bei denen es wohl fast so weit war. Doch man fand gemeinsame Lösungen. Wie John Bolton nun durchblicken ließ, könnte das Verlassen der Nato durch die USA aber durchaus ein Ziel der zweiten Amtszeit Donald Trumps gewesen sein.

Diese Informationen sind einerseits mit einer gewissen Vorsicht zu genießen, aber es ist auch kein Geheimnis, dass Trump so etwas wie ein besonderes Verhältnis mit Putin pflegte. Um genau zu sein, sagte man ihm eine Vergötterung Putins nach. Und es ist auch seitens Trump klar kommuniziert worden, dass er die Nato lieber heute als morgen verlassen möchte. Kombiniert mit Trumps ‚Austrittsorgien‘ bei internationalen Organisationen kann man all dem eine gewisse Glaubwürdigkeit nicht verweigern.

Wenn Putin also nicht nur Belarus als zusätzlichen Angriffsraum auf die Ukraine in Greifweite hätte, sondern auch eine USA, die vielleicht aus der Nato austritt als zusätzliche Schwächung Europas, dann könnte ihn das dazu verleiten, einen geplanten Angriff auf die Ukraine zu verschieben.

Zu und nach der US-Wahl hat er dann zwar nicht Trump an seiner Seite behalten, aber Belarus bekommen. Es bleibt dann auffällig, dass Putin erst mit nach der Inauguration von Biden seine Truppen vor der Ukraine sichtbar zusammenzog. Zur Deeskalation traf sich Biden dann mit Putin im Juni 2021. Das ermöglichte ihm mehr Vorbereitungen in Belarus und war sicher auch ein Weg Gesprächsbereitschaft zu simulieren. Anschließend konnte die Welt Amerikas Flucht aus Afghanistan bewundern. Schwer vorstellbar, dass der Kreml darin keine Schwäche erkannte.

Derweil war man in der Ukraine bereits hochbesorgt. Auf diplomatischem Wege wurde in 2021 immer wieder versucht, die Deutschen über den Truppenaufmarsch zu informieren und sie zu warnen. Daraus lernen wir auch, dass die Ukrainer keinesfalls unvorbereitet in den Krieg reingegangen sind. (Soweit man sich als militärisch schwächeres Land eben auf einen Krieg vorbereiten kann.)

Im September 2021 folgte dann die Bundestagswahl in Deutschland. Angela Merkel war die deutsche Kanzlerin, die 2014 die seinerzeit unerwartet starken Sanktionen der EU gegen Russland geschnürt und auch zusammengehalten hat. Merkel nicht mehr im Amt zu sehen, konnte man aus Putins Sicht durchaus als Vorteil begreifen. Ein SPD-Kanzler im Amt ist in jedem Fall ein Gewinn für Russland. Sei es nun, weil die SPD eine generelle Neigung zu Russland hat oder weil Gerhard Schröder die SPD Richtung Nord Stream 2 manipulieren konnte. Was auch immer am Ende die Gründe waren, auch hier ist eine zeitliche Koinzidenz zu finden. Denn Putin legte erst so richtig los, nachdem Merkel weg war.

Warum der Krieg?

Das Ergebnis dessen, was ich über die Jahre und auch jetzt sehe, ist, dass der Krieg unausweichlich war. Putin ging es immer um den Durchgriff in der Ukraine. Seit er den nicht mehr hat, führt er Krieg gegen die Ukraine. Es begann in 2014 und es geht nun weiter. Daher neige ich nicht dazu, 2022 als Ausbruch des Krieges anzusehen, sondern als Fortführung einer längeren Feuerpause. Aus der war die Ostukraine immer ausgenommen.

Es gibt aktuell Fragen, die sich mit der Ideologie und Spiritualität Putins beschäftigen. Bisher lehnte man ein Denken Putins in diesen Kategorien zu meinem Erstaunen gerne ab, aber der Diskurs wird nun neu aufgemacht.

Versucht man, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, dann wird man feststellen, dass Religion eine Konstante in Putins Leben ist. Putin war auch die treibende Kraft hinter der Expansion und Wiederbelebung der orthodoxen Kirche in Russland. Ganz rational natürlich, als Mittel der Macht. Abseits aller Diskurse fand ich in dem verlinkten Artikel den Hinweis interessant, dass die News hier eher ist, dass er dafür die orthodoxe Kirche genommen hat. Aus der UdSSR kommend nicht gerade eine naheliegende Wahl.

Spätestens mit seiner Krim-Rede muss jedoch jedem klar geworden sein, dass wir nicht mehr nur über eine geopolitische Begründung des rationalen Handelns einer Person sprechen. Vor allem proklamierte Putin hier genau das, was er als Russland ansieht und was auch bei im Westen verehrten Geistern wie Alexander Solschenizyn quasi Standarddenken war. Russland, das ist Russland, Belarus und die Ukraine. In dem Fall explizit über eine religiöse Verbindung herbeigeführt, die mit Staatsgrenzen nichts zu tun hat. Hier der Auszug aus Putins Rede:

Es ist kein Zufall, dass Putin im Nachgang immer häufiger als ‚Historiker‘ auffällig wurde. In diesem Kontext kann man sehr leicht erahnen, dass es für ihn eine persönliche Niederlage gewesen sein muss, als sich die ukrainische orthodoxe Kirche in 2019 von Moskau lossagte. Müsste ich darauf tippen, wann die komplette Invasion der Ukraine beschlossene Sache war, dann wäre das dieser Vorgang. Denn hier wurde klar, dass sich die Ukraine nicht wird im russischen Orbit halten lassen. Allen Manipulationen zum Trotze entwickelte sich hier ein Eigenleben.

Im Mai 2019 wurde der aktuelle Präsident Selenskyj vereidigt. Im Juli 2019 gab es im Rahmen des Normandie-Formats eine Videobotschaft von Selenskyj an Putin und im Dezember ein Treffen, bei dem es verschiedene Vereinbarungen gab. Dann stockte der Vorgang und man kam nicht weiter. Zur Beziehung zwischen Putin und Selenskyj habe ich nicht viel gefunden. Ich fand es nur erstaunlich, wie persönlich Putin bei seiner faktischen Kriegserklärung auch auf die Führungsebene der Ukrainer zielte. Als ob er dann auch feststellte, dass Minsk 2 in der vorhandenen Konstellation niemals wird umgesetzt werden können.

Anders gesagt: 2019 war das Jahr, in dem auch einem selbstbewussten Putin, Echokammer hin oder her, bewusst geworden sein muss, dass der Weg der Ukraine weg von Russland führt und die bisherige Einflussnahme nicht mehr ausreicht. In seinem Denken Grund genug für eine Invasion.

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