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Warum die AfD gewinnt und wie Medien und Politik dazu beitragen

Die falschen Fragen, die leichten Analysen. Es herrscht in Sachen AfD eine große Leichtigkeit.

Marco Herack
Marco Herack
9 minuten gelesen
Bild einer ausländischen Süßspeise.
Dessert

Inhaltsverzeichnis

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Vor dem Aufstieg der AfD war Pegida. Es gab ‚seinerzeit‘ diverse Versuche, diese ‚Bewegung‘ zu greifen und im Grunde sind sie alle gescheitert. Ein Punkt des Scheitern war ‚Verständnis‘, denn Menschen vor einer Kamera sind ein lustiges Ding, vor allem dann, wenn sie sich in Gruppe wähnen. Sie bekunden Parolen, die dieser Gruppe zugeordnet werden. Erst Nachfragen und Nachhaken, viel Zeit um ein Gespräch aufzubauen, fördert zu Tage, was diese Leute eigentlich umtreibt. Wo der Wutpunkt liegt.

In und um Dresden war dies beispielsweise das Thema Sicherheit. Das Land Sachsen hat bis heute die schärfste aller Schuldenbremsen. Kombiniert man so eine Schuldenbremse mit wegfallenden Subventionen (Solidarpakt I 1995–2004; Solidarpakt II 2004–2019), dann führt das zu Sparmaßnahmen spürbarer Natur. Die Sparmöglichkeiten sind im Grunde immer begrenzt. Man kann weniger öffentlichen Bau betreiben, weniger öffentliche Verwaltung- und Dienstleistungen. Man kann auch bei der Polizei sparen. Dann fährt künftig nicht mehr in jedem Dorf ein Polizeiwagen, sondern ein Polizeiwagen fährt mehrere Dörfer im Kreis ab. Einbrecher benötigen also nur noch Spähposten, um zu wissen, wann sie am besten wo zuschlagen. Zugleich gab es in den ländlichen Gebieten einen massiven Infrastrukturabbau. Einkaufsgelegenheiten verschwanden, stattdessen kommt mehrfach die Woche ein Verkaufswagen vorbei und garantiert die Grundversorgung. All das wäre auch im Westen schwer vermittelbar.

Ein Land ohne Öffentlichkeit

Früher war eine der Standardanalysen über Ostdeutschland, dass es keine eigenen Medien hat, um Debatten zu gestalten oder zu initiieren, die dann deutschlandweit wirken. Dieses Medium ist nie aufgetaucht. Stattdessen hat erst eine Bewegung und in der Folge eine Partei diese Stelle besetzt. Aber nicht mit explizit ostdeutschen Anliegen, sondern verbunden mit einer übergeordneten Ideologie.

Die Belange der Bürger in Sachsen hatten bis dato bestenfalls Regionalmedien interessiert, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Verfall und Überlebenskampf befanden. Es gab entsprechend zunehmend weniger Regional- und damit Fachwissen über regionale Angelegenheiten. Auf Bundesebene interessierte sich niemand für die Probleme der Sachsen. Allerdings bekamen das Land just in dem Moment deutschlandweit sehr viel Aufmerksamkeit, als sie ein Nazimob durch die Medien tingelte, Journalisten beschimpfte und Ausländer verachtete. Was dann auch dazu führte, dass sich die Hauptstadtpresse genötigt sah, der Provinz und den Provinziellen Aufmerksamkeit zu spenden.

(Ich möchte an der Stelle daran erinnern, dass Dresden und Leipzig im Sinne Deutschlands keineswegs provinziell sind, auch wenn man sie gerne mal so wahrnimmt.)

Wut, rechte Parolen und Empörung waren demnach die Mittel, mit der der Osten erstmals deutschlandweit Beachtung fand. Ein fatales Anreizmittel, in einer Zeit, in der sich die sozialen Medien zunehmend durchsetzten und sich hier ebenfalls der sich in Rage schreibende Bürger etablierte. Man wird, was man tut, selbst wenn anders startete.

Hörte man den Menschen länger zu, dann stieß man damals auf diese echten Probleme. Das soll nun nicht abstreiten, dass Pegida eine rechtsradikale Bewegung war, aber unter der Bedürfnishaube der Beteiligten, fanden wir damals viele Dinge, die man politisch hätte lösen können. Die politisch aber bis heute nicht gelöst wurden.

Mein Problem ist, dass ich hier ein Medien- und Politikversagen erkenne und es seitdem fortlaufend sehe. Medien kümmern sich um die großen Themen. Das, was Wucht hat und viel Aufmerksamkeit erzeugt. Da streitet man Monate mit Verve, ob man mit dem Nazi reden solle oder nicht, während man mit ihm redet und ihn dazu befragt, ob man mit ihm reden solle. Aber die Struktur solcher Befindlichkeitsberichterstattung dringt nicht zu der Frage durch, warum der Nazi zum Nazi wurde oder warum die Mitte der Gesellschaft plötzlich so eine Wut im Bauch hat, dass sie andere Menschen zu hassen beginnt, die nicht ausreichend gleich sind.

Ja, im Osten Deutschlands gab es schon zu DDR Zeiten viel rechtes Gedankengut und Ausländer wie auch Juden waren nicht wohlwollend in den Köpfen verankert. Aber der Osten war nach der Wende kein komplettes Naziland, wie mancher das darstellt. Der Osten wählte stramm, was er vorher auch wählte: Links.

Die Linke war im Osten nicht nur wegen der alten Gewohnheit und ideologischen Nähe beliebt, sondern die Linke kümmerte sich damals um die Menschen vor Ort. Bis hin zum Ausfüllen von Formularen. Und wer heute aus dem Osten heraus hört, dass die Solidarität abnimmt und alle nur noch an sich denken, der sollte an solche abgeschafften Strukturen denken, die Menschen konkret halfen. Der Staat, der sich qua Personalausdünnung bei der Polizei aus der sichtbaren Präsenz zurückzieht. Die Anonymisierung vieler Prozesse, die früher untereinander ausgehandelt wurden.

Es gibt viele Anhaltspunkte, bei denen man damals wie heute sagen kann: Da versagt der Staat. Was dafür spricht, dass die ostdeutsche Lebensrealität die eines nicht funktionierenden Westens ist.

Die Sache mit den Krisen

Staatsversagen ist besonders für Ostdeutsche eine große Empfindlichkeit. Denn so sehr wie sich alle einst über die Einheit freuten, so erzürnt sind sie über den Einheitsprozess.

Relevant ist das, weil die Ostdeutschen über Jahrzehnte einen Degenerationsprozess der Institutionen in der DDR hinter sich hatten, der in der Deutschen Einheit mündete. Der Staat log und betrog, er konnte immer weniger leisten und vermeintliche Sicherheiten waren reale Unsicherheiten. Das reale Leben war immer schlechter als das Kommunizierte. Eines der Gesichter und einer der Mittäter dieses Institutionenversagens ist der heutige Publizist Egon Krenz.

Wenn Ostdeutsche (viele, niemals alle) auf die BRD seit der Einheit schauen, dann sehen sie einerseits den gescheiterten Einheitsprozess und andererseits erahnen und vermuten sie einen zunehmenden Erosionsprozess in den Institutionen der BRD. Eine nicht seltene Wahrnehmung ist, dass man den Untergang Deutschlands nur aufgeschoben habe. Die Einheit also nur ein Teil des Gesamtverfalls war.

Es gibt an der Stelle zwei Wahrheiten, die man grob in Ost- und West einteilen könnte, auch wenn das der Sache nur bedingt gerecht wird.

Für den Westen war es eine ‚Krise‘, als der Ölpreis stark anstieg. Diese ‚Krise‘ bewältigte man mit Geld und in dem man sonntags kein Auto fuhr. Der Finanzmarktschock 2008 und in der Folge der Euroschock 2010 wurden schlichtweg bezahlt. Vor allem aber waren beide Schocks systemimmanent. Sie gehören daher aus meiner Sicht in den Bereich der ‚Krisen‘, die ein Beiwerk des grundsätzlichen Wirtschaftswachstums sind. Man könnte das auch ‚Wachstumsschmerzen‘ nennen, denn keiner dieser ‚Schocks‘ hat die Wachstumsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wirklich beschädigt. Selbst der Ausbruch des Coronavirus war finanzierbar, wenn auch eine gesellschaftliche Krise. Erst ab 2022, kann man von einem Krisenzustand sprechen, da die Finanzierungs- und Verteilungsfragen bis dato (2025) ungeklärt sind und damit langfristig negativ auf das Wachstum wirken. Es ist eine Strukturkrise.

Demgegenüber hat man in Ostdeutschland nach 1989 die Erfahrung einer lang andauernden Depression gemacht.

In Zahlen: 1991 lag die Industrieproduktion in Ostdeutschland 73% unter dem Vergleichswert von 1989. In Ostdeutschland waren 75,7% der Personen in Großbetrieben angestellt, die das dann betraf. Im Vergleich hierzu lag diese Quote im Westen bei 39,3%. Und es betraf sie nicht. Rund 80% der ostdeutschen Arbeitenden verloren ihren Job. Manche fanden recht schnell wieder einen, andere wanderten gen Westen und der Rest verblieb vor Ort.

Das ist eine Depression, die Unterkategorie einer wirtschaftlichen Krise. Und sie trägt einen luziden Gag mit sich:

Gesamtdeutschland rutschte erst 1993 in eine Rezession, da die Westwirtschaft vom Wegfall der Mauer profitierte. Ein Blick auf das Gesamt-BIP zeigt, dass dieses Profitieren im Westen die ostdeutsche Depression insgesamt unsichtbar werden ließ. Ein gutes Beispiel für diese ‚Blindheit‘ findet sich ausgerechnet beim Statistischen Bundesamt, dass zu seinem 75-jährigen Bestehen eine Pressemitteilung veröffentlichte, die diese ostdeutsche Realität zu einem gesamtdeutschen BIP verklärt, bei dem die erste gesamtdeutsche Rezession 1993 zu einer Folge des Golfkrieges reduziert wird.

In den Arbeitslosenstatistiken lässt sich die ostdeutsche Depression bis heute finden. Die Arbeitslosenquote ist in Ostdeutschland nie geringer als in Westdeutschland gewesen. Der Höhepunkt der ostdeutschen Arbeitslosigkeit wurde in 2005 erreicht. In Ostdeutschland lag die Arbeitslosenquote damals bei 20,6% und befand sich seit 2003 über 20%. Im Westen lag die Quote bei 9,3%-11%. Zu berücksichtigen ist dabei, dass bis zum Jahr 2000 rund 611.000 Menschen und dann bis 2010 weitere 553.000 aus dem Osten auswanderten. Die ostdeutsche Arbeitslosenquote wäre ohne diese Wanderung merklich höher gewesen.

Es steht also die Frage im Raum: Was ist eine Krise und wem wird sie zugestanden?

Mir scheint es so, dass das Empfinden von Wirtschaftskrisen in Westdeutschland vor allem auf Wohlstandsgewohnheiten beruht. Und dabei soll nicht ignoriert werden, dass Einzelschicksale in diesen wachstumsbedingten Krisen durchaus heftig sein können. In jedem Fall kommt der öffentlichen Debatte das Wort ‚Krise‘ sehr leicht über die Lippen.

Der Clou der AfD

Aus dieser Schilderung sollte im Grunde schon erkenntlich sein, warum die AfD ihre Basis im Osten Deutschlands fand. Das Erleben von wirtschaftlichen Schocks und wirtschaftlicher Depression ist für Ostdeutsche das Leben als Teil des Westens. Und damit ist die Idee eines Staatsversagens hier wesentlich tragbarer. Seine Bestätigung fand das alles in 2015, als viele Flüchtlinge in Deutschland ankamen und die Behörden vielerorts überfordert waren. Der Staat funktionierte sehr offensichtlich an vielen Stellen nicht so, wie er sollte.

Dazu habe ich im Mikroökonomen-Podcast die These geäußert, dass der Staat bezüglich der Flüchtlinge auch gar nicht funktionieren will, da er grundsätzlich auf die Abwehr von Zuwanderung aufgebaut ist. Nur weil das alles seit den 1980ern besser wurde, ist es ja noch lange nicht gut. Es bestätigte sich in jedem Fall der Eindruck des Nicht-Funktionierens, den Staatsbürger auch täglich bei anderen Dingen wie der Deutschen Bahn oder bei unbeackerten Baustellen ersehen.

Doch während all das nicht lösbar scheint, begannen die Institutionen die Probleme zu lösen, die die Flüchtlinge betrafen. Es ist ein offensichtlicher Punkt, dass Menschen sich benachteiligt fühlen, wenn andere scheinbar bevorzugt werden. Ich sehe das nicht so, aber die Wahrnehmung mancher war da und hat sich bis heute ausgebreitet.

Im Nachgang betrachtet könnte man fast sagen, dass 2015 der Punkt war, an dem man in Deutschland begann die Menschenrechte abzuschaffen. Erst innerlich, dann an der Grenze und schlussendlich, 2023, auch bei der Betrachtung von Kriegsgebieten.

Das ist eine Folge, der eigentliche Clou der AfD war aber, dass sie es schaffte, die ostdeutsche Idee eines drohenden Versagens der BRD-Institutionen, auch in den Köpfen der westlichen Wählerinnen und Wähler zu verankern.

An der Stelle spielt sicher auch mit rein, dass es zu und nach der Wende nie eine Idee von Gesamtdeutschland gab, sondern nur Deutschland als BRD. In der Ideenlage schließt sich damit ein Kreis. Statt für den Erhalt Deutschlands kämpft man nun für ein alternatives Deutschland, um sich zu erhalten. Oder anders gesagt: Der vermutete Untergang der BRD soll das Deutschland schaffen, das mit der Einheit hätte entstehen sollen.

Damit möchte ich auch der Idee widersprechen, dass die AfD eine Art Vergangenheit anbietet. Viele Ideen wirken ‚wie aus der Vergangenheit‘. Aber weswegen sich u.a. der Verfassungsschutz für die AfD interessiert, ist, weil sie ein anderes Deutschland will. In dem Sinne also eine neue Idee, die auf manchen wie eine Weiterentwicklung wirkt.

Diese Unterscheidung scheint mir wichtig, weil der Diskurs oftmals glaubt, es handle sich um einen Kampf um Fortschritt gegen Rückschritt. Keines der Lager scheint das aber für ihre jeweiligen Anliegen so zu sehen.

Fin

Vieles kann erklärt werden. Man kann Verständnis haben, sollte es vielleicht auch. Ebenso wichtig ist aber Grenzziehung. Denn jede Grenze, die nicht verteidigt wird, wird eingerissen. Etwas, was die AfD nur zu gut versteht, im Gegensatz zu medialen Kommentatoren oder Kanzlern.

Das andere ist, dass es keine einfachen und gegenpopulistischen Lösungen mehr gibt. Alles, was helfen könnte, hat mit Strukturen zu tun, die verändert werden müssen. Gesellschaft als Miteinander und nicht als Gegeneinander wäre dafür ein Anfang.

Es geht um Kärrnerarbeit. Wo Medien beginnen müssen, die Komplexität dieser Welt verständlich zu erklären, müssen politische Akteure an die Strukturen ran, die sie selbst geschaffen haben und sie einreißen. Ein Staat der Probleme löst, nicht Probleme verursacht und Mangelwirtschaft betreibt, ist dabei das grundsätzlichste. Denn nur das schafft Vertrauen und sichtbare Handlungsfähigkeit. Aber eben auch das Signal, dass der Staat sich um alle seine Bürgerinnen und Bürger kümmert statt sie zu selektieren.

Der Begriff der ‚Flüchtlingskrise‘ weist hier den Weg. Flüchtlinge als Krise, deswegen war der Staat plötzlich handlungsfähig und fand Lösungen. Was Hoffnung geben könnte, wäre, dass Merz zumindest die Infrastrukturdefizite in Deutschland als Krise erkannt hat und handlungsbereit war.

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